Nachricht Juni 1999
Antimarxistische Teestunden
Die MAIN-POST berichtete am 15. Oktober 1999: Hintergründe der Vertreibung von Professor Dr. Walter Brödel 1961 aus der DDR
WÜRZBURG · Ein in der DDR verfemter Mathematiker fand in den sechziger Jahren freundliche Aufnahme an der Universität Würzburg.
VON HANS-JOACHIM VOLLRATH
"Wie lange noch lehrt ein NATO-Professor an unserer Friedrich-Schiller-Universität?" fragte ein Flugblatt, das am Morgen des 12. Dezember 1961 an der Universität Jena im Auftrag der Universitätsparteileitung der SED verteilt wurde. Es richtete sich gegen den Direktor des Mathematischen Instituts, Prof. Dr. Walter Brödel (1911-1997) und stellte den Höhepunkt einer Kampagne dar, die den Mathematiker in die Flucht trieb.
An der Universität Würzburg fand er schließlich von 1963 bis zu seiner Pensionierung 1976 eine neue Wirkungsstätte. Für Würzburg war Prof. Brödel als profilierter Vertreter der geometrischen Funktionentheorie mit breit gestreuten mathematischen Interessen und ausgezeichnetem Lehrgeschick ein großer Gewinn.
Die Hintergründe dieses Geschehens werden durch eine Dokumentation von Gerhard Kluge offen gelegt, die kürzlich vom Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR herausgegeben worden ist. Sie zeigt Denkstrukturen, Aktionen und Reaktionen des kommunistischen Repressions-Apparates auf.
Als 1945 der Studienbetrieb an der Universität Jena wieder aufgenommen wurde, herrschte ein großer Mangel an unbelasteten Wissenschaftlern. So ist es erklärlich, dass 1947 Walter Brödel berufen wurde, der zwar seinen ersten Wohnsitz in der Nähe von Bad Reichenhall hatte, aber politisch unbelastet war. Der Wunsch nach einer Dreizimmerwohnung im zerstörten Jena konnte ihm nicht erfüllt werden; so behielt er seinen ersten Wohnsitz im Westen bei.
Spätere Aufforderungen, die Staatsbürgerschaft der DDR anzunehmen, lehnte er ab.
Mit dem Bau der Mauer 1961 grenzte sich die DDR stärker von der Bundesrepublik ab; inzwischen bestanden auch gute Chancen, die Professur durch einen "linientreuen" Wissenschaftler aus der DDR zu besetzen. Professor Brödel abzulösen, war jedoch nicht ganz einfach, denn er war bei Studenten, Mitarbeitern und Kollegen beliebt und geschätzt.
Walter Brödel scheute sich nicht, seine Meinung frei zu äußern. Nach dem Bericht eines Spitzels berichtet das Ministerium für Staatssicherheit, dass "er in seinen Vorlesungen vor den Studenten des ersten und zweiten Studienjahres der Physiker in raffinierter und arroganter Art den Marxismus als überholt hinstellte. Durch seine spitzen Bemerkungen bringt er es in den Vorlesungen dahin, dass die Studenten beifällig lachen."
Besonders misstrauisch beobachtet wurde die regelmäßige "Teestunde", in der sich Walter Brödel vor Mitarbeitern und Diplomanden freimütig zu Tagesfragen äußerte. Versuche, die Veranstaltung abzuhören, schlugen zunächst fehl.
Professor Brödel betrachtete sich als unabhängigen Wissenschaftler. So begann er nach der Aussage eines Studenten eine Vorlesung mit dem Hinweis, "dass er vor dem Gesetz Bürger der Bundesrepublik wäre, sich aber im Herzen als gesamtdeutscher Professor fühle. Wenn sich einige aus diesem Grunde veranlasst sehen sollten, den Hörsaal zu verlassen, dann mögen sie es ruhig tun."
Den Anstoß für die Flugblattaktion bildete ein Schreiben Brödels an den Direktor des Instituts für Pädagogik, in dem er dringend darum bat, den "Pioniernachmittag" für die Studenten mit sofortiger Wirkung abzusetzen, um ihnen ausreichend Zeit "zu einem wirklichen Eindringen in die Mathematik" zu lassen.
Prof. Brödel scheute sich auch nicht, Parallelen zur Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen. Als ihm vom Prorektor vorgehalten wurde, "dass der Lehrer zugleich ein politischer Erzieher sein muss", antwortete Professor Brödel, "dass dies schon in besonderem Maße seit 1933 gälte." Er fügte hinzu, "wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihm verbieten, Lehrer zu werden."
Die Flugblattaktion löste eine erhebliche Unruhe aus. Prof. Brödel konnte seine Vorlesung nicht mehr abhalten. Das war für ihn das Signal, die DDR umgehend zu verlassen. Das darauf hin eingeleitete Disziplinarverfahren gegen ihn ging ins Leere. Er wurde fristlos entlassen und ihm wurde sein Professorentitel aberkannt.
Als Gründe wurden seine "grundsätzliche gegnerische Haltung zu der Politik unserer Arbeiter- und-Bauern-Regierung" angegeben, die er "auf sehr geschickte und gewandte Weise" in die Erziehungstätigkeit hatte einfließen lassen. Besonders pikant ist der Vorwurf: "Er hat unter Wortbruch unsere DDR verlassen, obwohl er sich ohne Gefahr an Leib und Leben in der DDR frei bewegen konnte, was vor allem sein ungestörter Grenzübergang bewies." Es gab noch einige Nachforschungen in Ost und West durch das Ministerium für Staatssicherheit. Die Akte wurde aber bald geschlossen.
Für Professor Brödel war es eine Genugtuung, als sich 1990 der Rektor der Universität Jena in aller Form bei ihm entschuldigte. Bei einem Festkolloquium im gleichen Jahr bereiteten ihm ehemalige Kollegen und Schüler in Jena einen begeisterten Empfang.
Quelle:
Kluge, Gerhard: Der "NATO-Professor" Walter Brödel.
Der Landesbeauftragte des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Erfurt, Juni 1999