Forschungsbereiche
Mathematische Physik ist das große zusammenführende Thema der Forschung am Lehrstuhl X. Dabei spielen sehr unterschiedliche Bereiche der Mathematik eine wichtige Rolle:
Physik und Mathematik
Die mathematische Physik beschäftigt sich mit mathematischen Problemen, die ihre Motivation ebenso wie ihre Anwendung aus den verschiedensten Bereichen der Physik beziehen. Dabei kommen, entsprechend den physikalischen Anforderungen, die unterschiedlichsten Techniken und Disziplinen der Mathematik zum Einsatz.
Sicherlich naheliegend sind die angewandteren Bereiche der Mathematik: zum einen benötigt man ausgefeilte statistische Methoden, um den zum Teil erheblichen Datenmengen moderner physikalischer Experimente Herr zu werden. Zum anderen müssen physikalische Fragestellungen modelliert und simuliert werden, was ebenfalls die angewandte Mathematik mit numerischen und anderen computergestützten Verfahren auf den Plan ruft. Die konkreten Beispiele hierfür sind vielfältig.
Vielleicht etwas weniger offensichtlich ist, dass auch die reine Mathematik in der mathematischen Physik eine zentrale Rolle spielt. Viele physikalische Theorien entziehen sich (zumindest momentan) einer experimentellen Überprüfung. Eine Methode,trotzdem sinnvolle Dinge über derartige Theorien aussagen zu können, ist dann, ihre konzeptionelle Struktur zu analysieren. Hier hat man es dann schnell mit strukturellen Fragestellungen zu tun, die ihrer Natur nach sehr tief in der reinen Mathematik anzusiedeln sind. Unter dieser Sorte von Fragestellungen sind differentialgeometrische (in der klassischen geometrischen Mechanik) und funktionalanalytische (in der Quantentheorie) sicherlich die naheliegenderen. Aber auch rein algebraische und nicht zuletzt sogar zahlentheoretische Überlegungen spielen beim Verständnis moderner physikalischer Theorien eine wichtige Rolle.
Interdisziplinäre Fragestellungen
Das Reizvolle an der mathematischen Physik ist nun, dass man zum einen sicher sein kann, nicht-trivialen Fragestellungen zu begegnen, da diese ja mehr oder weniger unmittelbar aus der Physik entspringen und daher auf jeden Fall ihre Relevanz besitzen, mitunter eben konkrete Probleme der Naturwissenschaft darstellen. Zum anderen kann man sich bei der Beschäftigung mit einem Problem der mathematischen Physik vielerlei durchaus verschiedener Disziplinen der Mathematik bedienen. Dies ist dann auch inner-mathematisch von großem Interesse, da oftmals der wesentliche Fortschritt in der Wissenschaft an den Grenzflächen zwischen verschiedenen Teilgebieten stattfindet. So werden beispielsweise funktionalanalytische Fragestellungen der Physik plötzlich von einem geometrischen Blickwinkel aus betrachtet und geometrische Probleme beinhalten reiche algebraische Strukturen, die ihrerseits neue physikalische Interpretationen erlauben. Für die mathematische Physik ist dieser interdisziplinäre Charakter quasi von Anfang an Bestandteil der Konstitution. Damit wird aber auch eine hohe Flexibilität und die Bereitschaft, sich neue Techniken und mathematische Teildisziplinen zu erschließen, fester Bestandteil des alltäglichen Arbeitens in der mathematischen Physik.
Philosophische Aspekte
Die strukturelle Analyse von physikalischen Theorien mit Hilfe der mathematischen Physik schließt immer auch gewisse philosophische Aspekte mit ein: man wird schnell an Fragen herangeführt, die sich mit der Bewertung einer Theorie im Lichte der Erkenntnistheorie auseinandersetzen. Fragen nach der Vorhersagekraft, der Konsistenz und der Interpretation eines mathematischen Modells in der physikalischen Theorie sind hierfür typische Aufgabenstellungen.
Symplektische Geometrie und Poisson-Geometrie
In der symplektischen Geometrie betrachtet man eine Mannigfaltigkeit mit einer nicht-ausgearteten geschlossenen Zweiform, der symplektischen Form. Dies definiert zum einen einen musikalischen Isomorphismus, der es erlaubt, aus dem Differential einer Funktion ein Vektorfeld zu erhalten, das Hamiltonsche Vektorfeld der Funktion. Zum anderen können die Hamiltonschen Vektorfelder zweier Funktionen mit der symplektischen Form gepaart werden, was aufgrund der Geschlossenheit dann eine Poisson-Klammer liefert. Diese Strukturen erlauben es, die Grundgleichungen der klassischen Mechanik, die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen, auf geometrische Weise zu formulieren. Damit steht der geometrischen Mechanik dann die gesamte Differentialgeometrie zur Verfügung.
Eine Poisson-Mannigfaltigkeit verallgemeinert dies nun dahingehend, dass beliebige Poisson-Klammern auf der Funktionenalgebra betrachtet werden, ob sie nun nicht-ausgeartet sind oder nicht. Auf diese Weise erhält man wesentliche neue Beispielklassen. Poisson-Mannigfaltigkeiten sind nun das mathematische Modell des Phasenraums in der klassischen Mechanik und damit auch der Ausgangspunkt für verschiedene Quantisierungstheorien.
Lie-Theorie und homogene Räume
Lie-Gruppen sind Gruppen, die zusätzlich die Struktur einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit tragen und daher zur Beschreibung von Symmetrien in der Differentialgeometrie bestens geeignet sind. Die Möglichkeit, auf einer Lie-Gruppe zu differenzieren, liefert dann die infinitesimale Variante der Lie-Gruppe: ihre Lie-Algebra. Das Zusammenspiel von globaler Information (Lie-Gruppe) und infinitesimaler Sichtweise (Lie-Algebra) ist charakterisierend für die Lie-Theorie.
Während Lie-Gruppen alleine genommen bereits interessant sind, ist die wesentliche Anwendung in der Differentialgeometrie die, dass sie Symmetrien von geometrischen Objekten beschreiben. Dazu verwendet man den Begriff der Gruppenwirkung auf einer Mannigfaltigkeit, die dann vielleicht noch zusätzliche Strukturen invariant lässt. Liegen nun so viele Symmetrien vor, dass die Gruppenwirkung sogar transitiv ist, spricht man von einem homogenen Raum. Deren Studium ist nun von grundlegender Bedeutung für Gruppenwirkungen, da jeder Orbit einer Gruppenwirkung ein homogener Raum ist, und sich der gesamte Raum aus den Orbits zusammensetzt.
Riemannsche Geometrie und Lorentz-Geometrie
Riemannsche Geometrie ist eines der klassischen Gebiete der Differentialgeometrie. Hier wird mit einer Riemannschen Metrik, also einem positiv definiten Skalarprodukt auf jedem Tangentialraum, die metrische Geometrie einer Mannigfaltigkeit bestimmt. Insbesondere lassen sich so Geodätische definieren, Abstände bestimmen und vieles mehr. Riemannsche Metriken treten aber auch im Zusammenhang mit anderen Geometrien auf, wie beispielsweise in der Kähler-Geometrie, oder können als Hilfsmittel in allen Bereichen der Differentialgeometrie Verwendung finden.
Die Lorentz-Geometrie ist der Ausgangspunkt für die allgemeine Relativitätstheorie und kann als zeitabhängige Version der Riemannschen Geometrie gesehen werden. In diesem Rahmen lassen sich auf geometrische Weise Wellengleichungen formulieren, deren Anfangswertprobleme Aufschluss über die zugrundeliegende Geometrie geben. In den letzten Jahren hat es hier eine rasante Entwicklung insbesondere im Zusammenspiel mit Ideen aus der Quantenfeldtheorie gegeben.
Verallgemeinerte Geometrien
In der verallgemeinerten Geometrie stellt man das kanonische Courant-Algebroid einer Mannigfaltigkeit an den Anfang der Betrachtungen. Poisson-Strukturen ebenso wie geschlossene Zweiformen (prä-symplektische Formen) werden dann gleichermaßen durch Dirac-Strukturen in diesem Courant-Algebroid beschrieben. Auf diese Weise erhält man zum einen eine große Vereinheitlichung, zum anderen viele neue Beispiele von geometrischen Strukturen, die zwischen symplektischer und Poisson-Geometrie interpolieren.
Die integrierte oder globale Version der infinitesimalen Sichtweise führt dann in die Theorie der Lie-Gruppoide, welche je nach verallgemeinerter Geometrie mit zusätzlichen Strukturen ausgestattet sind.
Quantisierung als Übergang von klassischer Physik zu Quantenphysik
Unsere Arbeitsgruppe arbeitet weitgehend in der reinen Mathematik mit Fragestellungen aus der klassischen geometrischen Mechanik sowie der Quantentheorie. Insbesondere sind wir am Übergang von klassischer Physik zur Quantenphysik interessiert. Etwas unpräzise und pauschal wird dieser Übergang auch als Quantisierung bezeichnet, obwohl es hierfür weder einen gemeinhin akzeptierten Weg noch allgemein anerkannte Anforderungen an einen solchen gibt. Dies macht diese Thematik zu einem idealen Betätigungsfeld für die mathematische Physik, welche hier mit präziser Strukturanalyse der vorhanden physikalischen Ideen die eigentliche Fragestellung herausarbeiten und Vorschläge zu ihrer Lösung in Form von Existenz- und Klassifikationsresultaten geben kann. Erkenntnistheoretische Fragen schließen sich hier unmittelbar an: wieviel können wir aus dem Verständnis der klassischen Welt in die realistischere, in der Natur vorliegende Quantenwelt übertragen, wieviele Wahlen und Ungewissheiten müssen und dürfen wir in Kauf nehmen, um noch eine aussagekräftige Naturbeschreibung zu erzielen.
Klassische und quantenmechanische Observablenalgebren
Die klassische Seite wird vor allem mit der differentialgeometrischen Sprache der geometrischen Mechanik modelliert. Der Ausgangspunkt ist daher eine symplektische Mannigfaltigkeit als Phasenraum, der die Kinematik des klassischen Systems beschreibt. Da zunächst nur die Poisson-Klammer als wesentliches Strukturmerkmal benutzt wird, lässt sich die symplektische Mannigfaltigkeit auch etwas allgemeiner durch eine Poisson-Mannigfaltigkeit ersetzen. Auf algebraischer Seite wird die Funktionenalgebra der (glatten) Funktionen auf einer Poisson-Mannigfaltigkeit also zu einer Poisson-Algebra. Dies entspricht der klassischen Observablenalgebra.
Um die Quantenversion eines klassischen Systems zu verstehen, wählt man ebenfalls den Zugang über die Observablen. Diese bilden algebraisch eine *-Algebra, die nun aber nicht länger kommutativ ist. Vielmehr spiegeln sich in den Vertauschungsrelationen der Elemente der quantenmechanischen Observablenalgebra direkt die dem Experiment entnommenen Unschärferelationen der Quantentheorie wieder. Eine rein algebraische Beschreibung bleibt aber unvollständig, da für die Quantenphysik zudem die Spektren der Observablen und das Superpositionsprinzip von Zuständen mathematisch implementiert werden müssen. Um dies nun auf zufriedenstellende Weise zu erreichen, benötigt man verschiedenste Künste aus der Funktionalanalysis und dort insbesondere aus der Theorie der Operatoralgebren. Im Idealfall erhält man am Ende der Bemühungen eine C*-Algebra als Observablenalgebra zusammen mit einem guten Verständnis ihrer Darstellungstheorie durch Operatoren auf einem Hilbert-Raum.
Konstruktion der Observablenalgebra durch Deformation
Eine Möglichkeit, aus einer klassischen Observablenalgebra nun einen Kandidaten für die Observablenalgebra der Quantentheorie zu gewinnen, besteht in der Deformation des Algebraprodukts: hier wird auf demselben Vektorraum der klassischen Observablen ein neues, nun vom Planckschen Wirkungsquantum ℏ abhängiges, nichtkommutatives Produkt gesucht. Dieses soll der quantenmechanischen Multiplikationsvorschrift entsprechen. Der große Vorteil dieser Herangehensweise ist es nun, dass die physikalische Interpretation der Observablen auf der Quantenseite trivialerweise vorhanden ist: es sind schlicht dieselben Observablen wie in der klassischen Theorie. Gerade dieser Aspekt ist in der Quantentheorie im Allgemeinen keineswegs trivial. Es ist typischerweise nicht einfach zu sagen, welcher Operator nun welcher physikalischen Observable (also welcher Messvorschrift) entspricht. Der Preis ist natürlich, dass man nun eine typischerweise recht komplizierte neue Multiplikation, das Sternprodukt, zu verstehen hat.
Die wesentlichen Anforderungen an ein Sternprodukt sind nun, dass es assoziativ ist, da die Operatormultiplikation dies sicherlich ist, und dass es den korrekten klassischen Limes besitzt, sich für ℏ = 0 also auf das klassische, kommutative Produkt reduziert. Weiter soll in erster Ordnung von ℏ der Kommutator im Limes zur klassischen Poisson-Klammer werden. Dies ist eine Kompatibilität, die der Zeitentwicklung geschuldet ist, welche ja auf klassischer Seite mittels der Poisson-Klammer, auf quantentheoretischer Seite durch den Kommutator kodiert wird.
Die Deformationsquantisierung versucht nun, diese physikalisch motivierten Anforderungen mathematisch umzusetzen. Hier gibt es verschiedene Zugänge, der einfachste geschieht, indem man das zu findende Sternprodukt als formale Potenzreihe in ℏ ansetzt. Physikalisch ist dies sicher nicht der Weisheit letzter Schluss, stellt aber ein mathematisch einfach zu handhabendes Modell dar. Die Untersuchung der Konvergenzeigenschaften der formalen Sternprodukte erfolgt dann zu einem späteren Zeitpunkt. Es stellen sich nun die Fragen nach der Existenz und der Klassifikation von solchen formalen Sternprodukten. Hier gibt es mittlerweile eine sehr schöne und weitreichende Theorie: sowohl die Existenz auf allgemeinen Poisson-Mannigfaltigkeiten ist gesichert also auch die Klassifikation verstanden.